oder: wie Gustav Klimts weltberühmtes Bild durch NFTs, Non-Fungible Tokens, ein zweites Leben bekam.
Vielleicht hast du schon immer davon geträumt, eines Tages ein weltberühmtes Gemälde zu besitzen, beispielsweise einen Cézanne, einen Picasso – oder einen Klimt? Allen, denen bisher das nötige Kleingeld dafür fehlte, bot sich nun eine neue Chance: Eines der bedeutendsten Werke des Jugendstils, Der Kuss des österreichischen Malers Gustav Klimt, wurde als NFTs verkauft. So konnte man es, zumindest virtuell, in Teilen oder ganz erstehen.
Auf dem Kunstmarkt sind NFTs sind der Renner, das nächste große Ding, seit das Auktionshaus Christie’s im März 2021 ein NFT des Künstlers Beeple für sagenhafte 60,25 Millionen Dollar verkaufte. Aber was sind NFTs überhaupt?
„NFT“ steht für „Non-Fungible Token“ – das sind einzigartige digitale Eigentumszertifikate auf der Blockchain, einer Kette verschlüsselter Datensätze. Also etwas, das mit Kunst eigentlich nichts am Hut hat.
Während NFTs bisher meistens die eher schlichte Ästhetik von Computerspielen und Memes hatten, wurde nun durch das Wiener Kunstmuseum Belvedere Der Kuss von Gustav Klimt, ein kunsthistorisch bedeutsames Werk aus seiner Sammlung, in ein NFT verwandelt. Mithilfe eines Rasters von 100 mal 100 wurde es in 10.000 Segmente aufgeteilt, die nach dem Zufallsprinzip an Interessenten vergeben wurden. Finden alle NFTs einen Käufer, bringt das dem Belvedere satte 18,5 Millionen Euro ein.
Kein schlechtes Geschäft, wenn man bedenkt, dass hier nur virtuelles Eigentum verkauft wird, das Originalbild weiterhin im Besitz des Museums verbleibt und auch in Zukunft an seinem angestammten Platz im Belvedere hängen wird!
der Renner sein –– to be a bestseller, a big hit
sagenhaft –– incredible
das Eigentumszertifikat –– ownership certificate
verschlüsselt –– encrypted
wenig am Hut haben mit –– to have little to do with
kunsthistorisch bedeutsam –– significant for art history
die Sammlung –– collection
verwandeln –– to transform
das Raster –– grid
einbringen –– to yield, earn
das virtuelle Eigentum –– virtual property
an seinem angestammten Platz –– at its usual place
Romantik ist auch im Spiel
Dem Thema des Bildes entsprechend, hat man den Valentinstag zum Anlass genommen, um Den Kuss als NFT anzubieten. Denn das Werk, das vermutlich Klimt selbst und seine Lebensgefährtin Emilie Flöge darstellt, wird als Allegorie der Liebe verstanden. Mit seiner Sinnlichkeit wirkt das Bild wie eine Glorifizierung der Liebe von Mann und Frau. Das Paar scheint verschmolzen und ist von göttlichem Glanz umgeben – jedoch steht es am Rand eines Abgrunds, der bedrohlich wirkt und die Endlichkeit allen Seins darstellen könnte.
Auch wirkt die Frau seltsam unfrei: Sie kniet in unterwürfiger Haltung vor dem Mann und wirkt wie eingezwängt in die phallische Form der Gloriole, die das Paar umgibt. Und die abstrakten Ornamente auf den Gewändern der Liebenden deuten mehr auf einen Kampf der Geschlechter hin als auf Einheit in der Liebe.
entsprechend –– in accordance with
etwas zum Anlass nehmen –– to use sth. as opportunity to
vermutlich –– presumably
darstellen –– to portray
die Sinnlichkeit –– sensuality
verschmolzen (Inf.: verschmelzen) –– melded, blended
der Abgrund –– abyss
bedrohlich –– menacing
die Endlichkeit –– finitude, mortality
unterwürfig –– submissive
eingezwängt –– squeezed, jammed
das Gewand –– garment, robe
hindeuten auf –– to point to
die Einheit –– unity
Gold: Symbol des Ewigen und Göttlichen
Klimt schuf dieses Bild in der ersten Hälfte des Jahres 1908, während der Hochphase seiner „Goldenen Periode“ (1901–1910), in der er intensiv mit Goldfarben arbeitete. Das quadratische Gemälde ist mit Öl auf Leinwand gemalt und mit 180 × 180 Zentimetern von beachtlicher Größe. Seine Malweise dieser Zeit lehnt sich an die byzantinischen Mosaike an, die er auf einer Italienreise in der Basilica di San Marco in Venedig und in der Kirche von San Vitale in Ravenna studiert hatte.
Warum griff Klimt zu Gold, um das Thema der Liebe darzustellen? Im Christentum symbolisiert Gold das Ewige und Göttliche. So konnte er ein allgemein menschliches Thema in etwas Zeitloses und Spirituelles verwandeln. Die große Popularität des Gemäldes Der Kuss erklärt sich vermutlich dadurch, dass es eine Projektionsfläche für die vielfältigen Vorstellungen von unendlicher Liebe und erotischem Glück bietet, eingebettet in die faszinierende Aura des Goldes.
Noch 1908, im Jahr seiner Entstehung, stellte Klimt das Werk auf der bedeutenden Kunstschau Wien aus – und verkaufte es sogleich. Trotzdem überarbeitete er das Bild im darauffolgenden Jahr noch einmal. Der Käufer war das damalige österrische kaiserlich-königliche Ministerium für Kultus und Unterricht. Es bezahlte dafür die hohe Summe von 25.000 Kronen (heute etwa 137.000 Euro) und übergab das Werk der Neuen Galerie, die heutige Österreichische Galerie Belvedere, wo es bis heute hängt.
schuf, Inf. schaffen –– to create
die Hochphase –– heyday
das Gemälde –– painting
beachtlich – considerable
die Malweise –– painting style
griff … zu, Inf. greifen zu –– to resort to, to turn to
vermutlich –– presumably
die Projektionsfläche –– projection surface
die Vorstellung –– notion, idea
die Entstehung –– hier: creation
bedeutend –– important, major
überarbeiten –– to rework
jemandem etwas übergeben –– to hand sth. over to sb.
Geschäftstüchtiger Klimt
Was hätte Gustav Klimt wohl zu den NFTs von Der Kuss gesagt? Wir können es nur erraten. Sicher ist aber, dass er in seiner Malweise explizit auf die Reproduzierbarkeit seiner Werke achtete und ihre Vervielfältigung in Bildbänden und als Drucke unterstützte. So war Der Kuss bereits kurz nach seiner Entstehung durch Reproduktionen in vielerlei Form weit verbreitet.
Eine Farbreproduktion an der Wand ist eine Sache – ein NFT eine andere. Denn bei diesem handelt es sich ja nur noch um einen einzigartigen Code, eine Abfolge von Zahlen und Buchstaben, die ein Bild repräsentiert. Im Falle von Der Kuss erwirbt der Käufer mit einem NFT sogar nur einen winzigen Anteil, ein Zehntausendstel des berühmten Bildes, das verschlüsselt im Metaversum abgelegt ist. Ob das wirklich ein beglückendes Valentinsgeschenk ist?
Gustav Klimt zumindest hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, sein Bild gleichzeitig zu verkaufen und zu behalten.
achten auf –– to be mindful of
die Reproduzierbarkeit –– duplicability
die Vervielfältigung –– replication
vielerlei –– various
die Abfolge –– sequence
erwerben –– purchase
verschlüsselt –– encrypted
beglückend –– exhilarating
etwas dagegen haben, dass –– to mind